(Von Tobias R. Thauer*)
Die Kündigung auch eines schwerbehinderten Beschäftigten ist während der ersten sechs Monate eines Beschäftigungsverhältnisses, während der Wartezeit des § 1 KSchG („Probezeit“) ohne das Vorliegen betriebs-, personen- oder verhaltensbedingter Gründe grundsätzlich zulässig. Erst nach sechs Monaten tritt dem allgemeinen Kündigungsschutz noch der besondere Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen nach § 168 SGB IX hinzu, der die Zustimmung des Integrationsamtes vor Beendigungs- oder Änderungskündigungen erforderlich macht.
Präventionsverfahren zur Sicherung des Arbeitsverhältnisses
Umso wichtiger war und ist es für Arbeitgeber, die Eignung schwerbehinderter Beschäftigter innerhalb dieses Zeitraums zu überprüfen und bei Nichteignung ggf. noch vor Ablauf der Wartefrist eine Kündigung auszusprechen. Wird eine Kündigung erst nach dem Ende der Probezeit ausgesprochen, so sind nicht nur betriebs-, verhaltens- oder personenbezogene Kündigungsgründe darzulegen und zu beweisen. Zusätzlich ist auch ein Präventionsverfahren nach Maßgabe des § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Bisher hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Durchführung eines Präventionsverfahrens erst nach der Probezeit als notwendige formale Voraussetzung für eine Kündigung angesehen (BAG, Urteil vom 21. April 2016, Az. 8 AZR 402/14).
EuGH und BAG mit unterschiedlichen Standpunkten
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jedoch im Jahr 2022 demgegenüber festgestellt, dass die Kündigung von schwerbehinderten Beschäftigten auch der Probezeit (Wartezeit des § 1 KSchG) nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist (Urt. vom 10.2.2022, Az. C-485/20 HR Rail). Zu diesen Voraussetzungen zählt u. a. die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX, mit dem eine anderweitige Beschäftigung zur Sicherung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber geprüft werden muss.
Das Arbeitsgericht Köln hat folgend unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH die Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten durch den Arbeitgeber als unwirksam angesehen, da dieser vor Ausspruch der Kündigung innerhalb der Probezeit kein Präventionsverfahren durchgeführt hat (ArbG Köln, Urteil vom 20.12.2023, Az. 18 Ca 3954/23).
Anders hat nunmehr das Landesarbeitsgericht Thüringen entschieden: in den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses ist ein Arbeitgeber (weiterhin) nicht verpflichtet ist, vor Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen (LAG Thüringen, Urteil vom 04.06.2024, Az. 1 Sa 201/23).
Praxisrelevanz für die Personalverwaltungen und HR-Bereiche
Was bedeuten diese Entscheidungen nunmehr für die Personalverwaltungen in der Praxis? Derzeit ist die Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten innerhalb der Probezeit ohne Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX mit einem nicht geringen Risiko für den Arbeitgeber behaftet. Der Arbeitgeber riskiert die Unwirksamkeit einer bereits während der Probezeit ausgesprochenen Kündigung aus formalen Gründen. Arbeitgeber sollten daher bei Zweifeln an der Eignung eines schwerbehinderten Beschäftigten bereits zu Beginn der sechsmonatigen Probezeit ein belastbares und reproduzierbares Präventionsverfahren durchführen, und v. a. andere Beschäftigungsmöglichkeiten prüfen.
Abschließende Rechtssicherheit in dieser Frage wird erst das anliegende Revisionsverfahren beim BAG schaffen. An dieser Stelle wird, sobald das Verfahren beendet ist, dazu berichtet.
*Tobias R. Thauer ist der Personalleiter der Thüringer Verwaltungsschule (TVS) Weimar und Fachdozent für Arbeits- und Tarifrecht. Aktuelle Seminare: